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Professor Dr. Lars Selig, Experte für Ernährungsmedizin am Uniklinikum Leipzig, hält eine Ernährungspyramide in der Hand.
Adipositas: Leipziger Professor erklärt neue Erkenntnisse zur Krankheit
Adipositas, also krankhaftes Übergewicht ist eine komplexe chronische Erkrankung, die weit über das hinausgeht, was viele Menschen als bloße „Willensschwäche“ betrachten. Es ist ein Zustand, der tiefgreifende gesundheitliche Folgen haben kann und ein wachsendes Problem in der modernen Gesellschaft darstellt. Prof. Dr. Lars Selig, Experte für Ernährungsmedizin am Uniklinikum Leipzig, betont: „Bisher war es so, dass jemand, der adipös ist, immer als willensschwach oder als 'iss' mal ein bisschen weniger' definiert wurde. Und da sind wir ganz, ganz glücklich, dass es mittlerweile als Erkrankung anerkannt ist.“
Was genau ist Adipositas?
Adipositas wird hauptsächlich über den Body-Mass-Index (BMI) definiert, ein Verhältnis von Körpergewicht zu Körpergröße. Doch der BMI allein reicht nicht aus, da er beispielsweise bei Sportlern mit viel Muskelmasse irreführend sein kann. Daher ist es entscheidend, auch den Hüft- und Taillenumfang zu messen, um das tatsächliche Risiko für krankhaftes Übergewicht besser einschätzen zu können. Laut Selig ist das Gewicht zwar der prägnanteste Punkt, aber erst die Umfänge geben eine verlässlichere Risikoabschätzung.
Eine chronische Krankheit, die nicht heilbar ist
Ein zentraler Aspekt von Adipositas ist, dass es sich um eine chronische Erkrankung handelt, die nicht geheilt, sondern nur therapiert werden kann. Selbst wenn Betroffene Gewicht verlieren, besteht immer die Gefahr einer erneutenZunahme. Dies liegt an den komplexen Mechanismen der Krankheit. „Adipositas ist eine chronische Erkrankung mit einer hohen Rezidivneigung, die wir nicht heilen können, nach wie vor nicht heilen können“, erklärt der Experte. Dieses Wiederauftreten von Symptomen, die sogenannte Rezidivneigung, mache die langfristige Behandlung besonders schwierig.
Ursachen und die Rolle der Umwelt
Die Ursachen von Adipositas seien vielfältig. Es ist ein Missverhältnis zwischen Kalorienaufnahme und -verbrauch. Dennoch könnten manche Menschen essen, was sie wollen, ohne zuzunehmen, während andere schon bei geringer Nahrungsaufnahme stark zunehmen. Dies liege an zahlreichen stoffwechselbedingten Mechanismen im Körper.
Hinzu komme unsere „adipogene Umwelt“ – eine Umgebung, die Übergewicht begünstigt. Prof. Selig weist darauf hin, dass wir alles tun, um uns so wenig wie möglich bewegen zu müssen (Autos statt zu Fuß gehen, Aufzüge statt Treppen). Gleichzeitig seien hochkalorische Lebensmittel in Deutschland oft sehr günstig und 24 Stunden am Tag verfügbar. „Der Mensch ist eigentlich so programmiert wie vor 100 Millionen Jahren“, sagt Selig, „dass man etwas isst, das speichert und dann eine Zeit lang nichts isst, weil man erst ein paar Beeren suchen, oder ein Mammut erlegen musste.“ Unsere heutige Umgebung sei dafür nicht ausgelegt. Hinzu kommt die Werbung und die immer größer werdenden Portionsgrößen.
Stigmatisierung und ihre Folgen
Ein großes Problem sei die Stigmatisierung von Menschen mit Adipositas. Oft würden sie als faul oder willensschwach abgestempelt, was dazu führe, dass sie sich schämen und den Gang zum Arzt meiden würden. Viele Ärzte würden sämtliche Beschwerden wie Rückenschmerzen oder Bauchschmerzen auf das Gewicht schieben und den Patienten nur raten abzunehmen. „Das hilft aber dem Patienten nicht“, erklärt Selig. „Wenn es so einfach wäre, Gewicht abzunehmen, dann würden sie es einfach tun.“ Diese Stigmatisierung, sogar in der medizinischen Gemeinschaft, sei ein großes Hindernis für eine erfolgreiche Behandlung. Es wäre wichtig, von „Menschen mit Adipositas“ zu sprechen und nicht von „adipösen Menschen“, um zu betonen, dass es sich um eine Krankheit handele und nicht um einen Fehler der Person selbst.
Therapieoptionen und neue Erkenntnisse
Die Behandlung von Adipositas umfasst verschiedene Ansätze:
- Konservative Therapien: Sie basieren auf drei Säulen: Ernährung, Bewegung und Verhaltenstherapie.
- Medikamentöse Therapien: Es gebe neue Medikamente, die ursprünglich für die Diabetes-Behandlung entwickelt wurden, aber eine gewichtsreduzierende Nebenwirkung hätten. Diese müssten meist selbst bezahlt werden und würden oft nur wirken, solange sie eingenommen werden. Selig warnt: „Wenn ein Patient mit Übergewicht oder Adipositas sich dann einfach spritzt, aber nichts an seinen Rahmenbedingungen ändert, dann hilft ihm die Spritze wahrscheinlich auch nicht so viel.“
- Bariatrische Chirurgie: Die Magenverkleinerung oder Darmumleitung gilt heute als die wirksamste Therapie. Sie wird jedoch nicht mehr als letztes Mittel („Ultima Ratio“) angesehen. Eine Operation sei aber keine Wunderlösung. Der Patient müsse trotzdem seine Ernährung umstellen und sein Verhalten ändern, da die Operation nicht das Problem im Kopf löse.
- Endoskopische Eingriffe: Dazu gehört der Magenballon, der für eine begrenzte Zeit im Magen verweilt und dem Gehirn ein Sättigungsgefühl vorgaukelt.
Alle diese Therapien müssten von einer begleitenden Beratung und Verhaltensänderung begleitet werden.
Ein Kampf gegen die Krankheit
Adipositas ist mit fast 200 anderen Krankheiten assoziiert, darunter Bluthochdruck, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Menschen mit einem BMI über 40 haben eine um zehn Jahre geringere Lebenserwartung. Daher ist es dringend notwendig, die Krankheit ernst zu nehmen. Prof. Dr. Selig fordert: „Wir müssen diese Adipositas einen Kampf ansagen.“
Um dies zu erreichen, müsse die Öffentlichkeit über die Krankheit besser aufgeklärt werden, um Stigmatisierungabzubauen. Wir müssten lernen, über den Tellerrand zu blicken und Menschen mit Adipositas nicht zu verurteilen. Das Wissen um die komplexen, oft nicht beeinflussbaren Mechanismen im Körper könne dazu beitragen, dass ein Mensch mit Adipositas als jemand wahrgenommen werde, der eine Krankheit habe – so wie ein Patient mit Diabetes oder Krebs.